Wie unschuldig das klingt: Buchenwald. Das Wort könnte für ausgedehnte Spaziergänge durch lichte Wälder, sonnenbeschienene Wege mit goldbraunem Laub, knarrende Bäume und ausgedehnte Spaziergänge stehen. Wenn es da nicht diesen einen Ort auf der Welt gäbe, der diese zehn Buchstaben für immer mit einem realen Horror belegt hätte. Das Konzentrationslager Buchenwald auf dem Ettersberg bei Weimar.
Über Jahrzehnte hat mich dieser Ort immer wieder angezogen. Mit all seiner Widersprüchlichkeit zwischen Schönheit und Grauen, zwischen Hochkultur und menschlichen Abgründen. Von den vorgeschriebenen Schulexkursionen zur politischen Bildung, über meine Arbeit als TV-Autor, bis zu vielen Gesprächen mit Zeitzeugen.
Ein Prozess
In dem Moment, als ich diese Zeilen schreibe, weiß ich noch nicht genau, welche Zielrichtung dieser Beitrag hat, wie lang er werden wird. Ich spüre nur, dass er geschrieben sein möchte und sich die Arbeit daran vermutlich über Monate hinziehen wird. Ich möchte den Leser an diesem Prozess teilhaben lassen. Deswegen werde ich ihn immer wieder wie ein Tagebuch ergänzen.
Meine Verbindung zu Buchenwald begann in der Schulzeit.
In der DDR zog sich die „politische Aufklärung“ quer durch fast alle Schulfächer. Besonders stark ausgeprägt war sie natürlich in dem Fach Staatsbürgerkunde und auch in Literatur. So gehörte Bruno Apitz „Nackt unter Wölfen“ zu den Standardwerken, die jeder Schüler lesen und auch verinnerlichen sollte. Apitz hatte selbst 8 Jahre in Buchenwald eingesessen. Sein Roman, erschienen im Frühjahr 1958 im Mitteldeutschen Verlag – zeitgleich mit der Eröffnung der Gedenkstätte Buchenwald –, wurde zum ersten und vielleicht auch einzigen sozialistischen Bestseller. Weltweit in 30 Sprachen übersetzt und mit einer Gesamtauflage von weit mehr als zwei Millionen Büchern. Mittlerweile gibt es drei Verfilmungen.
Doch Apitz’ auf wahren Begebenheiten beruhende Geschichte des jüdischen Kindes Stefan Jerzy Zweig wurde instrumentalisiert, fiktionalisiert.
Dass sein Vater Zacharias Zweig, den Jungen mithilfe von Mithäftlingen vor der Deportation nach Auschwitz-Birkenau und damit dem sicheren Tod rettet, indem er den Jungen auf die Krankenstation bringt, war für die Geschichte offenbar nicht genug. Deshalb spielte er in dem Buch keine Rolle. Stattdessen rettet ihn der kommunistische Lagerwiderstand.
Auch dass der Name des Jungen wegen der Erkrankung auf einer Deportationsliste der SS gegen den damals 16-jährigen Sinto-Jungen Willy Blum ausgetauscht wurde, erfährt man darin nicht. Willy und sein Bruder Rudolf wurden in Auschwitz-Birkenau Ende 1944 ermordet.
Das weiß man heute, knapp 80 Jahre nach der Befreiung des Lagers und 63 Jahre nach Erscheinen der Erstausgabe. Im Schulunterricht der DDR ist sein Roman ein Tatsachenbericht und gleichzeitig Symbol für den heldenhaften Widerstandskampf der Kommunisten im KZ Buchenwald.
Zurück in meine Schulzeit: Die 80er-Jahre sind geprägt von einer zunehmenden Unzufriedenheit gegen das sozialistische System. Die DDR versucht mit noch mehr Propaganda gegenzusteuern. Die Altkommunisten klammern sich an ihre Rolle. Zu den regelmäßigen Schulveranstaltungen gehören Besuche in der Gedenkstätte Buchenwald. Ich denke, es war 1983, als ich das erste Mal die Gedenkstätte besuchte.
Zu diesem Zeitpunkt wurden die Führungen noch von Menschen gemacht, die die Zeit miterlebt hatten. Ihr Anspruch an uns pubertierende Jugendliche war groß. Vielleicht etwas zu groß. Ihr pädagogisches Einfühlungsvermögen hingegen eher klein.
Trotzdem, wer einmal in Buchenwald war, durch das Tor in das Gelände mit seiner bewussten Leere tritt, der wird die Schwere sofort fühlen, die über dem Ort liegt. Selbst das Wetter scheint sich daran zu orientieren, ich empfinde diesen Ort selbst im Sommer als kalt und unwirtlich.
38.049 Menschen starben hier. Davon 748 noch nach der Befreiung an den Folgen der Lagerhaft. Und das sind nur die in den Unterlagen der Gedenkstätte verzeichneten Toten. Zusammen mit den ermordeten unbekannten Kriegsgefangenen und den vielen Menschen, die auf den Todesmärschen ums Leben kamen, sind es über 56 000 Menschen, die rund um den Ettersberg zwischen 1937 und 1945 ihr Leben lassen mussten.
Befreiung
Über Monate hinweg hatte das Internationale Lagerkomitee – ein Zusammenschluss von Häftlingen als Widerstand gegen die SS – bereits Waffen zusammengetragen oder heimlich aus Resten aus den Rüstungswerken gebaut. Auch ein Funkgerät gehörte dazu, mit dem bereits am 8. April 1945 ein Funkspruch in Deutsch, Englisch und Russisch an die Alliierten abgesetzt wurde.
„An die Alliierten. An die Armee von General Patton. Hier ist das Konzentrationslager Buchenwald. SOS. Wir bitten um Hilfe. Sie wollen uns evakuieren. Die SS will uns vernichten.“
Drei Minuten später kam die Antwort:
„KZ Bu. Haltet durch. Eilen zu eurer Hilfe. Stab der 3. Armee.“
Am 11. April 1945 nähern sich die US-Truppen dem Lager. Gegen 10 Uhr verkündet der SS-Kommandant von Buchenwald, Hermann Pister, den Abzug der Wachmannschaften. Gegen 14:30 Uhr sollen Häftlinge des Widerstands mit illegal besorgten Waffen die Wachtürme übernommen und die weiße Flagge gehisst haben. Gegen 15:15 Uhr trafen die ersten US-Soldaten der 4. Panzerdivision in Buchenwald ein.
Selbstbefreiung oder nicht? Darüber wurde viel diskutiert. Am treffendsten hat es aus meiner Sicht Volkhard Knigge formuliert: Es habe sowohl eine Befreiung von außen als auch eine Befreiung von innen gegeben. Doch klar ist: Ohne die aussichtslose Situation durch die vorrückenden Amerikaner wären die Wachmannschaften nie geflohen. Das schmälert nicht die Leistung des Widerstands, hilft aber bei der Einordnung.
Buchenwald – ein Ort voller Widersprüche
Dieses Grauen liegt wie eine unsichtbare Glocke über den wenigen Quadratkilometern. Es scheint sich auf die Westseite des Ettersberg zu konzentrieren. Im Norden dagegen steht erhaben und schön das Schloss Ettersburg. Die beiden Orte, obwohl nur zwei Kilometer Luftlinie voneinander entfernt, könnten unterschiedlicher nicht sein.
Der Glockenturm
Dort, wo heute der weithin sichtbare Glockenturm steht, gab es bereits vorher einen Turm. Der Bismarckturm Weimar, 1900 begonnen und am 27.10.1901 eingeweiht, war ein 43 Meter hohes Bauwerk, das an Otto von Bismarck (1815–1898) erinnerte.
Dieser Turm wurde am 11.05.1949 nach nur 48 Jahren gesprengt. Hintergrund war die geplante Errichtung einer „Gedenkstätte für die Opfer des Faschismus“. Aber sicherlich auch, weil der Turm als ein Symbol des Deutschen Reiches und seines Gründers Bismarck gesehen wurde, und das in unmittelbarer Nähe zu den Gräbern der Opfer des Konzentrationslagers Buchenwald für viele unerträglich war.
wird sporadisch fortgesetzt…
Verwendete Quellen
- Der Berg über der Stadt: Zwischen Goethe und Buchenwald – Harald Wenzel-Orf / Wulf Kirsten, 2003 bei Ammann
- Schloß Ettersburg: ein Laboratorium europäischer Kultur – Seidel / Ulbricht, 2006 bei Glaux
- Das vergessene Buchenwaldkind – mdr.de
Weitere Artikel
Weitere Artikel über Buchenwald